Ask an Expert | Polycythaemia Vera | Patientensprechstunde am 7. Oktober 2025

Über Ask an Expert

„Ask an Expert“ bietet Patient:innen die Chance, ihre individuellen Fragen zur seltenen Erkrankung Polycythaemia Vera (PV) an erfahrene Experten in dieser Indikation zu stellen. Denn das Leben mit PV stellt Betroffene vor viele Herausforderungen. Oft fühlen sich Patient:innen unsicher hinsichtlich des Krankheitsverlaufs oder verfügbarer Behandlungsmöglichkeiten. Dann stellen Sie jetzt Ihre Fragen zur PV an unsere Experten.

Die Unternehmensgruppe AOP Health, die sich als europäischer Pionier dem Bereich integrierter Therapien für seltene Erkrankungen und Intensivmedizin widmet, bietet die Reihe „Ask an Expert“ mit ausgewiesenen Experten auf dem Fachgebiet der myeloproliferativen Erkrankungen an.

 

Patientensprechstunde am 7. Oktober 2025

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Einführung

In der 9. Patientensprechstunde „Ask an Expert“ begrüßen Prof. Andreas Reiter (Universitätsklinikum Mannheim) und Prof. Martin Grießhammer (Universitätsklinik Minden) die Teilnehmenden zu einem Austausch rund um myeloproliferative Neoplasien, insbesondere die Polycythaemia Vera (PV).

Blutwerte und Symptome

Prof. Reiter leitet die Diskussion mit einer Patientenfrage zum Hämatokritwert ein: Ob ein Wert von 51 % unter Therapie (z. B. Aderlass oder Hydroxyurea) akzeptabel sei. Prof. Grießhammer erläutert, dass dieser Wert zu hoch ist. Studien hätten gezeigt, dass der Hämatokrit bei Polycythaemia Vera konsequent unter 45 % gesenkt werden müsse, um Thrombosen, Mikrozirkulationsstörungen und schwerwiegende Komplikationen zu vermeiden. Daher sollte alles darüber therapeutisch korrigiert werden. Die Experten sind sich einig, dass die Kontrolle und Senkung des Hämatokrits ein zentrales Therapieziel ist, um die Prognose der Erkrankung zu verbessern.

Im Anschluss spricht Prof. Reiter das Thema Juckreiz (Pruritus) an, ein häufiges Symptom bei myeloproliferativen Neoplasien. Er unterscheidet zwischen dauerhaftem Juckreiz und dem aquagenen Pruritus, der typischerweise nach Kontakt mit Wasser auftritt.

Prof. Grießhammer bestätigt, dass Juckreiz nicht nur bei Polycythaemia Vera, sondern auch bei essentieller Thrombozythämie und Myelofibrose vorkommen kann. Der aquagene Pruritus sei charakteristisch für Myeloproliferative Neoplasien (MPN), doch müsse stets abgeklärt werden, ob auch andere Ursachen für einen Juckreiz vorliegen– etwa Allergien oder Hauterkrankungen. Ein einseitiger Juckreiz, z. B. nur an einem Bein, sei dagegen untypisch.

Prof. Reiter betont, dass bei starkem oder unklarem Juckreiz unbedingt ein Dermatologe hinzugezogen werden sollte, um Hauterkrankungen wie Nesselsucht (Urtikaria) auszuschließen. Diese habe keinen direkten Zusammenhang mit Polycythaemia Vera.

Zur Therapie erläutert Prof. Grießhammer, dass allgemeine Maßnahmen wie Hautpflege und Antihistaminika häufig nur begrenzt helfen. Wirksamer seien Interferon und insbesondere Ruxolitinib, die gezielt auf die Erkrankung wirken und den Juckreiz lindern können.

Beide Experten erwähnen ergänzend die Möglichkeit einer PUVA-Lichttherapie (Anm. der Redaktion: PUVA ist eine Abkürzung für eine Kombination aus Psoralen (einem lichtempfindlich machenden Stoff) und UV-A (langwelliges UV-Licht), welche als Therapie in der Dermatologie eingesetzt wird. Man spricht auch von einer Photochemotherapie), die in Einzelfällen hilfreich sein kann.

Prof. Reiter fasst zusammen, dass bei schwerem Juckreiz aufgrund einer PV, eine zytoreduktive Therapie mit Ruxolitinib oder Interferon in Betracht gezogen werden sollte, da sie auch den Juckreiz als Symptom gezielt adressiert.

Medikamente und Nebenwirkungen

Prof. Grießhammer spricht die häufige Patientenfrage an, ob Hydroxyurea die Infektanfälligkeit erhöht.
Prof. Reiter erklärt, dass eine gewisse Infektneigung grundsätzlich sowohl durch die Erkrankung selbst als auch durch Therapien entstehen könne, dies bei myeloproliferativen Neoplasien (MPN) jedoch eher selten sei.
Bei Hydroxyurea stünden andere Nebenwirkungen im Vordergrund:

  • Mundschleimhautläsionen
  • Magen-Darm-Beschwerden wie Übelkeit, Erbrechen oder Durchfall
  • Hautveränderungen und -tumoren, die meist erst nach vielen Jahren auftreten
  • Ulcera (Beingeschwüre) als charakteristische Langzeitnebenwirkung

Eine relevante Infektneigung sieht Prof. Reiter dagegen nicht als typisch für Hydroxyurea. Prof. Grießhammerbestätigt dies: MPN-Erkrankungen selbst führten nicht zu einer erhöhten Infektanfälligkeit, auch Hydroxyurea spiele dabei keine wesentliche Rolle.

Beide Experten betonen, dass Ruxolitinib im Vergleich zu Hydroxyurea häufiger mit Infekten assoziiert sei. Besonders Harnwegsinfekte könnten auftreten, wenn auch meist nicht in dramatischem Ausmaß. Prof. Grießhammer fasst zusammen, dass die Substanz zwar wirksam, aber mit erhöhter Aufmerksamkeit für Infektionen zu verordnen sei.

Im weiteren Verlauf weist Prof. Reiter darauf hin, dass Luftnot kein typisches Symptom der Polycythaemia Vera oder ihrer Therapien sei.
Nur in fortgeschrittenen Stadien, etwa bei ausgeprägter Anämie, könne Atemnot auftreten. Tritt sie auf, sollte stets eine kardiologische oder pneumologische Abklärung erfolgen, um Herz- oder Lungenerkrankungenauszuschließen.

Prof. Grießhammer ergänzt, dass Luftnot höchstens akut bei der Erstgabe von Hydroxyurea vorkommen kann, ansonsten aber kein relevantes Begleitsymptom sei.

Bei jüngeren Patienten könne ein Zusammenhang mit der Therapie nicht ausgeschlossen, bei älteren dagegen eher als Zufall gewertet werden.

Zu Ruxolitinib merkt Prof. Reiter an, dass Nebenwirkungen wie Gewichtszunahme erst im klinischen Alltag deutlich wurden und indirekt metabolische Veränderungen begünstigen könnten. Ein direkter Zusammenhang zu Diabetes sei jedoch nicht belegt.

Prof. Grießhammer bestätigt, dass weder Interferon, Ruxolitinib noch Hydroxyurea bekanntermaßen Augenerkrankungen oder Blutzuckerstörungen verursachen. Auch wenn in Fachinformationen augenärztliche Kontrollen erwähnt werden, sieht er keinen gesicherten ursächlichen Zusammenhang. Beide Experten raten daher zu Gelassenheit, betonen aber die individuelle Beobachtung möglicher Begleiterscheinungen.

Therapie, Dosierung, Allel-Last

Prof. Reiter leitet das Gespräch mit dem Thema Therapiedosierung ein. Bei Hydroxyurea liege die übliche Dosis bei 2–4 Tabletten täglich. Die Dosierung werde individuell an Blutbild, Wirkung und Verträglichkeit angepasst. Ziel ist die Erlangung eines Hämatokritwertes unter 45% sowie eine Normalisierung der Leukozyten- und Thrombozytenwerte – bei möglichst geringen Nebenwirkungen.

Anschließend richtet Prof. Reiter die Frage auf das pegylierte Interferon. Prof. Grießhammer betont, dass er grundsätzlich mit niedrigen Dosen (50 µg) beginne und langsam steigere, um Nebenwirkungen zu vermeiden und die Verträglichkeit zu verbessern. Ein zu schneller Einstieg in hohe Dosen könne den Körper überfordern und zum Abbruch der Therapie führen.
Da das Interferon seine volle Wirkung bei niedriger Dosierung erst verzögert entfaltet, sei Geduld erforderlich. Für eine kurzfristige Kontrolle könne es sinnvoll sein, Hydroxyurea vorübergehend zu kombinieren.

Beide Experten sind sich einig: Eine individuelle Dosiseinstellung ist entscheidend – „so viel wie nötig, so wenig wie möglich“. Prof. Grießhammer strebt stets die minimal wirksame Dosis an, um Wirksamkeit und Lebensqualität in Einklang zu bringen.

Prof. Grießhammer spricht die Bedeutung der Allel-Last unter Interferontherapie an. Ein Beispiel: Ein Patient zeigt trotz guter Blutwerte eine steigende JAK2-Allel-Last.
Prof. Reiter erläutert, dass die Allel-Last zwar ein wichtiger, aber noch nicht vollständig verstandener Biomarkersei. Vorrangiges Ziel bleibe die Normalisierung des Blutbildes, die Symptomkontrolle und die Vermeidung einer Milzvergrößerung.
Eine sinkende Allel-Last könne ein positives Zeichen sein, müsse aber nicht zwingend erreicht werden. Unterschiede zwischen Laboren, Messungenauigkeiten von ±10 % und individuelle Krankheitsverläufe machten die Bewertung schwierig. Beide betonen, dass die Forschung hierzu noch am Anfang steht und Langzeitdatenerforderlich sind.

Prof. Reiter weist darauf hin, dass bei Ruxolitinib eine zu geringe Dosierung problematisch sei. Die Standardtherapie betrage 2 × 10 mg täglich, geringere Mengen wie 2 × 5 mg seien in der Regel unterdosiert und weniger wirksam.

Für Interferon gebe es dagegen keine festgelegte Standarddosis – die Spannweite reiche von 50 µg bis 350 µg. Eine Dosis über 500 µg werde als kritisch eingeschätzt. Die Steigerung erfolge üblicherweise in 50 µg-Schritten alle zwei bis sechs Wochen, abhängig von Verträglichkeit und Therapieansprechen.

Bei guter Remission und stabilen Werten könne das Therapieintervall verlängert oder die Dosis reduziert werden – stets mit engmaschiger Kontrolle. Ziel ist eine dauerhafte Krankheitskontrolle mit minimaler Belastung.

Prof. Reiter hebt hervor, dass die Nebenwirkungen der Therapie nicht schwerer sein dürfen als die Krankheit selbst. Er zitiert eine Patientin: „Die Nebenwirkungen sind manchmal schlimmer als die Krankheit.“ Dies verdeutlicht die Notwendigkeit eines individuellen Gleichgewichts zwischen Wirksamkeit und Verträglichkeit.

Gleichzeitig erinnert er daran, dass die Behandlung der Polycythaemia Vera eine Langzeitinvestition sei: Ziel sei es, Thrombosen, Embolien und die Verfaserung des Knochenmarks langfristig zu verhindern.

Prof. Grießhammer ergänzt abschließend, dass mehr Nebenwirkungen nicht gleich mehr Wirkung bedeuten. Entscheidend sei die effektive Dosis mit akzeptabler Verträglichkeit – nicht die maximale Belastung des Körpers.

Aderlass und Eisenmangel

Prof. Reiter berichtet von einem Patienten, der seit über 12 Jahren ausschließlich mit Aderlässen behandelt wird – inzwischen mit 50 bis 70 Eingriffen. Der Patient habe eine ausgeprägte Eisenmangelanämie mit einem Hämoglobinwert unter 10 g/dl entwickelt und leide unter deutlicher Müdigkeit.

Prof. Reiter betont, dass zu häufige und langandauernde Aderlässe heute nicht mehr dem modernen Therapiestandard entsprechen, da sie Eisenmangel und Erschöpfungssymptome verursachen können. Zudem stünden inzwischen wirksame medikamentöse Alternativen wie Hydroxyurea, Interferon oder Ruxolitinib zur Verfügung, die den Aderlass langfristig ersetzen oder ergänzen sollten.

Prof. Grießhammer stimmt dem zu und ergänzt, dass der Aderlass zu Beginn einer Behandlung sinnvoll sein könne, er verliere jedoch bei dauerhafter Anwendung seinen Nutzen und werde dann kontraproduktiv.

Beide Experten betonen, dass das Ziel heutiger Therapien darin liegt, die Aderlassfrequenz deutlich zu reduzierenund Eisenmangelkomplikationen zu vermeiden.

Resistenz-Entwicklung / Wirkungsverlust von Medikamenten

Prof. Grießhammer spricht das Thema Wirksamkeitsverlust (Resistenz) gegenüber Ruxolitinib und Interferon an.

Prof. Reiter erläutert, dass ein Wirkungsverlust sich auf verschiedene Weise zeigen kann – etwa durch erneuten Aderlassbedarf, steigende Leukozyten- oder Thrombozytenwerte oder eine Zunahme der Milzgröße. Besonders unter Hydroxyurea komme es nach mehreren Jahren häufig zu einem nachlassenden Therapieeffekt, was oft den Wechsel auf andere Substanzen erforderlich mache.

Beim Interferon seien bisher nur wenige Fälle von Wirksamkeitsverlust beobachtet worden. Wenn die Blutwerte anfangs noch nicht vollständig kontrolliert seien, könne eine Kombination mit Hydroxyurea vorübergehend sinnvoll sein. Auch unter Ruxolitinib könne es vereinzelt zu einem Wiederanstieg der weißen Blutkörperchen oder der JAK2-Allel-Lastkommen, was auf eine partielle Resistenz hindeute.

Prof. Reiter weist zudem darauf hin, dass Anämie nicht automatisch auf einen Wirkungsverlust hinweist, sondern auch durch Eisenmangel oder den Übergang in eine Myelofibrose verursacht sein kann. In solchen Fällen sei eine Knochenmarkuntersuchung erforderlich.

Beide Experten betonen, dass trotz meist stabiler Verläufe bei wenigen Patienten ein Krankheitsfortschritt bis hin zur Myelofibrose oder sekundären Leukämie auftreten kann. Diese seltenen Fälle zeigen, dass Resistenzen und Wirkungsverlust wichtige Themen in der Langzeittherapie bleiben.

Eisenmangel, Ernährung und Sport

Die Experten diskutieren den Umgang mit Eisenmangel bei Polycythaemia Vera.

Prof. Grießhammer befürwortet eine vorsichtige orale Eisengabe, sofern die Erkrankung durch Medikamente wie Interferon, Ruxolitinib oder Hydroxyurea gut kontrolliert ist. Eine intravenöse Eisensubstitution lehnt er ab, da sie die Blutbildung stark anregen könne. Beide betonen, dass Patienten mit laufender Aderlasstherapie kein Eisen erhalten dürfen, um eine Überproduktion von Blutzellen zu vermeiden.

Ist das Blutbild stabil, kann eine orale Eisengabe helfen, Müdigkeit und Fatigue zu lindern. Ernährungsempfehlungen seien individuell, pauschale Vorgaben gebe es nicht.

Zum Thema Sport raten die Experten zu regelmäßiger, moderater Bewegung – etwa Ausdauer- und leichtem Krafttraining. Wichtig sei, dass die Aktivität Freude bereitet und nicht zur Überforderung führt.

Neue Substanzen

Prof. Reiter nennt zwei Substanzen, die sich derzeit in der klinischen Entwicklung befinden:

  • Givinostat, ein Wirkstoff, der bereits in Studien getestet wurde, deren Ergebnisse aber noch ausstehen.
  • Rusfertide, ein neuartiges Medikament, das durch Blockade der Eisenverfügbarkeit einen „inneren Aderlass“ bewirken soll. Es könnte in den kommenden Jahren eine Zulassung erreichen, befindet sich jedoch weiterhin in Prüfung.

Beide Experten betonen, dass Patienten sich keine Sorgen machen müssen, wenn sie diese Medikamente noch nicht erhalten haben – sie sind noch experimentell.

Prof. Grießhammer mahnt zur Zurückhaltung: Beide Wirkstoffe seien noch weit von einer breiten Anwendung entfernt.

Übereinstimmend betonen die Experten, dass die modernen Medikamente – bestehend aus Interferon undRuxolitinibhochwirksam und gut verträglich sind. Diese, in Kombination mit ASS sind in der Behandlung der Polycythaemia Vera derzeit der Standard.

Schlussworte / Verabschiedung

Zum Abschluss der 9. „Ask an Expert“-Veranstaltung bedanken sich die Experten bei den Teilnehmenden sowie beim langjährigen Sponsor AOP Health. Beide betonen, wie bereichernd und kurzweilig die gemeinsame Diskussion erneut war.

Ein besonderer Hinweis gilt der 10. Jubiläumsausgabe am 27. Februar 2026 in Frankfurt a.M. Die Veranstaltung wird hybrid durchgeführt – also in Präsenz und online. Prof. Reiter lädt alle Interessierten herzlich ein, sich den Termin vorzumerken und sich überraschen zu lassen, „wie an Weihnachten“.

Weitere Informationen zu Ort, Ablauf und Anmeldung werden in Kürze auf ww.ask-an-expert-live.de veröffentlicht.

AOP Health ist der europäische Pionier im Bereich integrierter Therapien für seltene Erkrankungen und Intensivmedizin und setzt sich für die Verbesserung der Aufklärung über seltene chronische Erkrankungen ein.

 

Vielfach fehlen den betroffenen Patient*innen grundlegende Informationen zu ihrer Situation und den verfügbaren Behandlungsmöglichkeiten. Mit einer Online-Sprechstunde zur Seltenen Erkrankung Polycythaemia vera gibt AOP Health Betroffenen die Möglichkeit, ihre individuellen Fragen an erfahrene Experten auf dem Fachgebiet der myeloproliferativen Erkrankungen zu stellen. Weitere Information zum Krankheitsbild von seltenen Erkrankungen (myeloproliferative Neoplasien) finden Sie unter https://mpn.network.